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Das Sein bzw. das Nichtstun gibt es nicht
von Rudi Zimmerman
Der Buddhismus empfiehlt das Nichtstun. Der Mensch sollte beispielsweise einen Tag in der Woche nichts tun (z.B. Thich Nhat Hanh - “sein statt tun”, sondern einfach nur sein.
Hinter dieser Auffassung steckt aus Sicht der Philosophie lebender Systeme jedoch die gleiche Auffassung von Tun und Nichtstun, wie sie in der westlichen Philosophie des Arbeitens und Wachsens, das auf die Erde keine Rücksicht nimmt, vertreten wird - mit dem Unterschied, dass diese Zerstörungsphilosophie abgelehnt wird, womit ich selbstverständlich solidarisch bin. Tun und Nichtstun wird in dieser Begriffswelt lediglich auf die Aktivität der quergestreiften Muskulatur des Körpers bezogen. Diese Muskulatur, die nach außen sichtbare Bewegungen ausführt, wie die der Extremitäten, des Rückens, des Gesichts und der Sprechwerkzeuge, nenne ich die Außenmuskulatur. Diese Außenmuskulatur unterliegt willentlicher Steuerung, das ist ihr Kennzeichen. Das Individuum kann die Tätigkeit dieser Muskeln anhalten, solange er will. Diese äußere Passivität bedeutet jedoch nicht, dass das Individuum nichts tut.
Dies in zweierlei Hinsicht:
Erstens ist die Entscheidung, diese Außenmuskulatur “ruhen” zu lassen, eine Entscheidung über die Tätigkeit dieser Muskeln und damit ebenfalls eine Tat. Es handelt sich also nicht um ein Nichtstun, sondern um eine Aktivität, die darin besteht, äußere Bewegungen auf ein Minimum einzuschränken. Oder anders gesagt: auch das Anhalten von Bewegung ist ein Tun. Der Zustand völliger äußerer und innerer Aktivität ist nur der Tod. Erst im Zustand des Todes ist der Körper des Menschen nicht mehr aktiv. Im Zustand des Lebens wird jedes Scharniergelenk des Körpers durch zweierlei Muskelgruppen bewegt, nämlich durch Beuger und Strecker. Verharrt ein Gelenk in seiner Position, so bedeutet dies, dass die Muskeln, die das Gelenk beugen, ebenso stark innerviert sind, wie die Muskeln, die antagonistisch wirken und das Gelenk strecken. Bei jeder Bewegung sind übrigens beide Muskelgruppen beteiligt: beuge ich ein Gelenk, muss ich die Beuger aktivieren und die Strecker locker lassen. Auch dieses Lockerlassen von Muskeln ist ein Tun. Spanne ich beide Muskelgruppen gleichzeitig an, vollziehe ich eine isometrische Muskelanspannung, ohne dass eine Bewegung ausgeführt wird, das Gelenk bleibt in seiner Position. Auch das ist möglich. Im sogenannten “Ruhezustand” ist also der Muskeltonus der Beugemuskeln jedes Gelenks lediglich gleich dem Tonus der Strecker - alle Muskeln sind jedoch aktiv! Und selbst, wenn sie keinen Tonus haben müssen, weil die Extremität auf einer Unterlage ruht, haben sie einen Ruhestoffwechsel - jede Zelle muss auch dann einen Grundumsatz haben, also aktiv sein, wenn sie nicht arbeitet.
Zweitens ist im Zustand des sogenannten Nichtstuns, des Seins, die andere Muskulatur, die ich innere Muskulatur nenne, weiter aktiv und arbeitet. Diese ist mit der Sicherung des Überlebens des Körpers beschäftigt, mit der Aufrechterhaltung der Homöostase.
Diese beiden Muskelarten unterscheiden auch darin, dass die Außenmuskeln vom motorischen Nervensystem innerviert werden, das von der Hirnrinde seinen Ausgangpunkt nimmt, während die Innenmuskeln vom sogenannten autonomen (oder vegetativen) Nervensystem gesteuert werden.
Diese Innenmuskeln sind im wesentlichen das Herz, das Zwerchfell und der Darm. Am schnellsten arbeitet in diesem äußeren Ruhezustand der Hohlmuskel, das Herz; die Muskelplatte, die den Brustraum vom Bauchraum trennt, nämlich das Zwerchfell, arbeitet langsamer und am langsamsten arbeitet unser Muskelschlauch, der Darm. Die Arbeitsgeschwindigkeit dieser 3 inneren Muskeln wird vom autonomen Nervensystem automatisch der Aktivität des Körpers angepasst. Arbeitet der Körper intensiv, wird also die Außenmuskulatur angestrengt oder sehr angestrengt, sorgt der sogenannte sympathische Teil des vegetativen Nervensystem dafür, dass das Herz entsprechend schneller schlägt, das Zwerchfell schneller atmet und damit mehr Sauerstoff aufgenommen wird und der parasympathische Teil dieses Nervensystem sorgt dafür, dass der Darm und die an der Verdauung beteiligt Organe ihre Tätigkeit reduzieren oder einstellen. Die Anpassung der Tätigkeit der inneren Muskeln an die Erfordernisse des täglichen Lebens erfolgt automatisch, unbewusst. Der Tag besteht dabei nicht nur aus dem Anteil des Tages, an dem wir wach sind, sondern auch aus dem Teil, an dem wir schlafen. Selbst im Schlaf ist der Körper aktiv, wobei hier die Verdauung (die Tätigkeit des Darms ist dabei nur ein Teil der Nachtaktivität) im Vordergrund steht. Herzmuskel und Atemmuskel (Zwerchfell) arbeiten nun langsamer und die Tätigkeit der Außenmuskeln ist auf ein Minimum reduziert.
Das sogenannte "Sein", das völlige Nichtstun, gibt es während des relativ kurzen Zeitraums, in dem der Körper des Menschen lebt, jedoch nicht. Ein lebendes System kann nicht nichts tun.
Rudi Zimmerman, Webphilosoph Berlin am 3.11.2012 |