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Die Metamorphose des Menschen und der Menschheit
von Rudi Zimmerman
Die Physik spricht nicht von Metamorphose, wenn ein Element unter dem Einfluss von Temperatur- oder Druckerhöhung seine Erscheinungsweise ändert, sondern von unterschiedlichen Aggregatzuständen (fest, flüssig, gasförmig). Die Geologie hingegen spricht von Metamorphose, wenn sich ein Gestein unter hohem Druck- oder Temperatureinfluss ändert. In der Botanik versteht man darunter die Umwandlung eines Grundorgans zur Anpassung an besondere Lebens- und Umweltbedingungen. In der Zoologie die Verwandlung einer Larvenform zum Adultstadium, wobei aus einer unansehnlichen Raupe ein wunderschöner Schmetterling werden kann. Auch der Mensch ändert sich im Lauf des Lebens. Diese Metamorphose wird jedoch allgemein verleugnet.
Die Metamorphose des Menschen
Beim Menschen ist bisher keine Metamorphose beschrieben worden. Das liegt daran, dass der ganze Mensch bisher in der Wissenschaft unbekannt ist. Die Medizin beschäftigt sich lediglich mit dem lebenden Körper des Menschen. Der ganze Mensch hingegen besteht zusätzlich aus den körperexternen nicht lebenden Organen, nämlich seinem "Eigentum", seinem Geld und seinem Geist. Berücksicht man diese von der Philosophie lebender Systeme (=PhilS) eingeführte umfassende Definition des menschlichen Individuums, so vollzieht auch der Mensch eine Metamorphose.
Nach Abschluss seiner Größenwachstums wächst der Mensch nämlich weiter, indem er sich durch Übung Fähigkeiten aneignet und vor allem seine geistigen Fähigkeiten vervollkommnet, durch Arbeit verdient er sich nun Geld und kann sich bei Bedarf Flügel kaufen – nämlich ein Flugzeugticket , ein Auto anschaffen, um sich schneller bewegen zu können, oder Schmuck erwerben, um sich zu verschönern. Diese Metamorphose des biologischen Menschen zum modernen vollständigen Menschen, der seine Erscheinung beliebig oder dem Anlass angemessen verändern kann und seine biologischen Fähigkeiten um die technikvermittelten Fähigkeiten erweitern kann, wird in der Wissenschaft völlig übersehen.
Der Grund für die Verleugnung der menschlichen Metamorphose durch die Wissenschaft
Die Wissenschaft nimmt eine willkürliche Trennung des biologischen Menschen von seinen technischen Erweiterungen vor und ist daher unfähig, den Menschen vollständig zu begreifen. Auf diese Weise macht sie den Menschen klein. Sie tut dies im Auftrag des Systems Staat, von dem sie dafür auch fürstlich belohnt wird. Das System Staat als das dem Individuum übergeordnete lebende System höherer Ordnung, für das die Individuen lediglich Elemente, Subsysteme, "Holons" (im Sinne Arthur Koestlers) sind, über die der Staat verfügt, hat ein Interesse daran, seine Individuen nicht "selbstbewusst" werden zu lassen. Es muss verhindern, dass seine Bürger ein ihrer wahren Größe angemessenes Selbstwertgefühl entwickeln, weil anderenfalls die Gefahr besteht, dass sich die Bürger nicht wie gewünscht unterwerfen. Sie sollen sich traditionell als minderwertige kleine Rädchen im Getriebe des Staats fühlen, weil sie dann besser als Steuerzahler, Erzeuger von Nachwuchs, Stimmenabgeber bei Wahlen oder als Kanonenfutter im Krieg benutzt werden können. Die sogenannte "Demokratie" suggeriert dem Individuum zwar, dass alle Macht vom Volke ausgeht, das bedeutet jedoch nicht, dass die Macht von den Individuen ausgeht. Das "Volk" ist nämlich etwas anderes als die Summe der Individuen. Das "Volk", das auch jeweils erstaunlich gute Wahlentscheidungen bei allgemeinen, freien und geheimen Wahlen trifft, ist nämlich ein lebendes System höherer Ordnung, das eigene "höhere" Interessen hat als die Individuen. Und deshalb vertreten die Volksvertreter auch nicht ihrer eigenen Privatinteressen, sondern die Interessen des Volkes. So werden beispielsweise derzeit (im Jahr 2010) die Interessen des deutschen Volkes am Hindukusch, also in Afghanistan, verteidigt, wofür deutsche Individuen sterben müssen. Aber das nur nebenbei.
Das Verhältnis des Menschen, den ich unter Berücksichtigung seiner eingangs beschriebenen zusätzlichen nichtlebenden Körperteile, seiner erlernten Fähigkeiten, seines Geldes und seines Geistes, um die er sich im Rahmen seiner Metamorphose erweitert hat, als "System Mensch" bezeichne, könnte sich, wenn er sich seiner realen Größe bewusst würde, dem Staat gegenüber kritischer verhalten - und dies liegt nicht im Interesse des Systems Staat. Daher bezahlt es Wissenschaftler dafür, dass diese die Metamorphose des Menschen zum System Mensch missachten.
Die Zusammenarbeit der Systeme Mensch
Die Metamorphose des Menschen zum System Mensch hat nicht nur Auswirkungen auf das Individuum, das dadurch unheimliche Fähigkeiten erwirbt, sondern insbesondere auf die Zusammenarbeit der Menschen. Der Mensch wird zu einem gesellschaftlichen Wesen. In seinem vormenschlichen Affendasein konnte er bei Hunger die Hand ausstrecken und eine Banane pflücken. Nun richtet sich in Übersee ein anderer Mensch eine Bananenplantage ein, ein weiterer pflückt die Banane für ihn, ein anderer transportiert die Banane mit dem Laster zu einem Hafen, weitere Mitmenschen lenken das Schiff, das wieder andere erbaut haben, über das Meer, nun bringt ein zusätzlicher Mitmensch die Banane in der Supermarkt um die Ecke. Um sie dort zu kaufen, muss unser Mensch zunächst lernen, dann zur Arbeit gehen und einen Beruf ausüben, wofür er Geld bekommt. Und mit diesem Geld erwirbt er die Banane im Supermarkt. Diese stark verkürzte Darstellung der komplizierten Vorgänge, die den Griff zur Banane abgelöst haben, zeigt, was hier mit "gesellschaftlichem Wesen" gemeint ist. Ein ehemals einfacher von einem Individuum ohne fremde Hilfe ausführbarer Pflückvorgang wird nach der Metamorphose des Menschen zu einem Vorgang, für den sehr viele Menschen an verschiedenen Orten zusammenarbeiten müssen. Und er zeigt, dass für diese Zusammenarbeit etwas Neues geschaffen werden musste. Die Metamorphose des Menschen hat den Menschen also nicht nur stark verändert, sondern es ist durch sie auch etwas neues entstanden, nämlich eine sehr komplizierte Beziehungsstruktur zwischen Menschen auf verschiedenen Kontinenten, zwischen Menschen unterschedlicher Sprachgemeinschaften und Glaubensgemeinschaften und Kulturen, und es ist das Geld entstanden. Und letzteres hat sich inzwischen weiterentwickelt zum virtuellen Geld, das nur noch als Zahl auf einem Bankkonto vorhanden ist.
Die Metamorphose der Menschheit
Begonnen hat diese Metamorphose entwicklungsgeschichtlich mit der Arbeit, der Herstellung von Waren, und damit mit der Einführung des Geldes als Tauschmittel. Dieser Sichtweise von Friedrich Engels u.a. kann man sich wohl anschließen. Der Metamorphose der heutigen Individuen ist also eine Metamorphose der Menschheit vorausgegangen. Aus den Jägern und Sammlern der menschlichen Urzeit (der "Kindheit" der Menschheit nach Lewis Henry Morgan), die zunächst ohne technische Hilfsmittel ihre Nahrung beschafften, hat sie durch Metamorphose eine zivilisierte Menschheit gebildet. In meinem Buch "Zivilisation als Fortsetzung der Evolution" (ISBN-13: 978-3000247019) habe ich die Ursachen und den Ablauf dieser Metamorphose genau analysiert, so dass ich mich hier nicht zu wiederholen brauche.
An sich sind die Tatsachen der Menschheitsentwicklung und die Tatsachen der Entwicklung des Menschen vom Kind zum Erwachsenen allgemein bekannt. Neu ist lediglich der Blick, den die Philosophie lebender Systeme auf diese Veränderungsvorgänge wirft und die Bewertung, die daraus resultiert. Betrachtet man nämlich die für selbstverständlich gehaltene Entwicklung des Menschen zum Erwachsenen als Metamorphose eines Individuums, so erscheinen seine Fähigkeiten, sein Wissen, seine materiellen Erwerbungen, also sein Eigentum einschließlich des Geldes, als neue Teile seines Körpers. Und die Wirkungen, die dieses Individuum durch die Verwendung seines Geldes entfaltet, dass es nämlich durch seine Kaufentscheidungen Menschen in Übersee, in Fabriken und Werkstätten bewegt, erscheinen nun als riesige Kraftentfaltung, die das Individuum steuert. Andererseits hat sich das Individuum durch diese Metamorphose in ein Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Mitmenschen begeben, das so weit geht, dass man sagen kann, alle Individuen auf dem Globus sind praktisch von allen irgendwie abhängig, die gesamte Menschheit ist eine Einheit geworden, die Menschheit ist durch diese Metamorphose zu einer Einheit zusammengewachsen. Und nunmehr erscheint die Zerteilung dieser Menschheit in verschiedene Staatengemeinschaften, ethnische Gruppen und Glaubensgemeinschaften als überholt, antiquiert und als Hemmnis für ein reales Zusammenwachsen aller Menschen zu einer Menschheit.
Rudi Zimmerman |