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Das Verhältnis von Praxis und Theorie am Beispiel der kleinsten Einheit
von Rudi Zimmerman
Die Denkfigur der kleinsten Einheit
Die Verwendung der Ziegel zum Hausbau lässt sich bis in das Neolithikum (=Jungsteinzeit, ca. 8000 Jahre v.Chr.) zurückverfolgen. Schon die Sumerer in Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, der "Wiege der Kultur" und die Ägypter verwendeten Lehmziegeln. Aber auch in anderen Kulturen (z.B. China) entwickelte sich diese Bautechnik etwa im gleichen Zeitraum. Der Ziegelstein war die kleinste Einheit zum Hausbau. Für Kinder wurde inzwischen der Legostein zur kleinsten Einheit des Hausbaus.
Naturwissenschaftlich zu nennende Theorien über die Zusammensetzung von Materie bildeten die Menschen - soweit bekannt aufgrund schriftlicher Aufzeichnungen – erst im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt. Der vorsokratische griechische Philosoph Leukipp und sein Schüler Demokrit (460-371 v.Chr.) entwickelten die Theorie, dass die Materie aus kleinsten unteilbaren Teilchen zusammengesetzt sei und die Vielfalt der wahrnehmbaren Erscheinungen durch unterschiedliche Zusammensetzung dieser "Atome" zu erklären sei. Erst der modernen Naturwissenschaft gelang es, diese "kleinsten unteilbaren Teilchen" doch zu teilen und festzustellen, dass sich die Materie aus drei kleinsten Teilchen zusammensetzt, nämlich aus Neutronen, Protonen und Elektronen. Die Forschung darüber ist noch lange nicht abgeschossen. Ich untersuche hier jedoch Denkfiguren des Menschen, so dass ich auf die komplizierten werdenden Forschungsergebnisse nicht eingehen muss. Die Denkfigur des kleinsten Bausteins setzt sich auch in der Erklärung lebender Systeme der Größenordnung "Individuum" (=unteilbares Wesen) fort. Matthias Schleiden und Theodor Schwann veröffentlichten erst 1839 die Zelltheorie, die die Zelle als kleinsten lebenden Baustein aller lebender Systeme des Pflanzen und Tierreichs, also auch des Menschen, postulierte. Diese Vorstellung wurde von der modernen Genetik bestätigt, die nachweist, dass jede Zelle eines Lebenden Systems die gleiche Erbinformation enthält und die Vielfalt der Körperzellen und Organe lediglich auf unterschiedlichen Aktivitäten der jeweils identischen Erbinformation zurückzuführen ist. Diese Erbinformation setzt sich ihrerseits aus 4 Bausteinen (Nucleotiden) zusammen.
Die Denkfigur der kleinsten Einheit als Ausgangspunkt für die Konstruktion größerer Produkte ist also eine weit zurück verfolgbare Idee der Menschheit, sozusagen eine "Uridee", die man in Anlehnung an die Terminlogie des Psychoanalytikers C.G. Jung als Archetyp menschlicher Zivilisation bezeichnen könnte.
Idealisten würden wohl meinen, dass es sich um eine Idee handelt, die bereits in der Natur verwirklicht ist und Menschen mit religiöser Ideologie würden diese Idee einem "Gott" unterstellen.
Die Diskussion darüber ist müßig und keine Angelegenheit der Philosophie lebender Systeme (=PhilS), die als Natur- und Technikphilosophie eine praktische und keine theoretische Philosophie ist.
Der Begriff der Einheit
Ich spreche hier bewusst nicht vom kleinsten Teil, sondern von der kleinsten Einheit. Eine Einheit kann wiederum aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt sein, wie beispielsweise das Atom als kleineste Einheit der Materie aus Protonen, Neutronen und Elektronen besteht, die wiederum aus noch kleineren Teilen zusammengesetzt sind. Das Atom bleibt jedoch dennoch die kleinste Einheit, aus der Moleküle und Materie zusammengesetzt ist. Der Begriff “Einheit” ist also der Oberbegriff für gleiche Bauteile, aus denen ein größeres System zusammengesetzt ist, das selbst wiederum als Einheit eines noch weiter übergeordneten System fungieren kann.
Die Vorteile der kleinsten Einheit
Die PhilS stellt vielmehr die Frage, worin der Vorteil dieser Idee der kleinsten Einheit liegt, der dazu geführt hat, dass sie offenbar im Rahmen der Entwicklung nichtlebender Systeme von einfachsten Bausteinen zu komplizierten Molekülen und der Evolution von Einzellern zum Menschen positiv selektiert worden ist, sich also in der Praxis durchgesetzt hat.
Der wesentliche Vorteil dieser Idee liegt nach Ansicht der PhilS in der Wiederverwertbarkeit dieser kleinsten Einheiten, also in der Vermeidung von "Abfall"; modern ausgedrückt: in der Möglichkeit des Recycling.
Die Nichtlebende Materie stellt unter verschiedenen äußeren Bedingungen aus den kleinsten Bausteinen der Materie immer wieder neue Verbindungen (Atome und Moleküle) her, die Lebenen Systeme machen es ebenso, allerdings nicht unter Zurückbau von Zellen bis zur Nucleinsäure oder bis zum Atom, sondern es reicht hier, dass im Rahmen der Verdauung kompliziert zusammengesetzte Kohlenhydrate (Zucker, Stärke) bis zum Baustein des Sechsrings (Monosaccharide wie Glucose und Fructose), Fette bis zum Glycerin und den Fettsäuren und Eiweiße bis zum Baustein Aminosäure zurückgebaut, also "verdaut", werden, um daraus körpereigene Eiweiße usw. herzustellen.
Kommen wir zurück zur Bautechnik, so sehen wir auch hier, dass der Bauziegel, der noch heute allerdings mit abnehmender Häufigkeit Verwendung findet, seine Recyclingfähigkeit mit besonderer Dramatik nach der Zerstörung ganzer Städte im 2. Weltkrieg bewiesen hat. Beispielsweise konnte das in Schutt und Asche gelegte Berlin durch den Einsatz der Trümmerfrauen, die die Bauziegel vom Mörtel befreiten, mit den gleichen Grundbausteinen, den Bauziegeln, teilweise wieder aufgebaut werden. Mit der Verwendung von härteren und festeren Klebemitteln zwischen den Bauziegeln in der Gegenwart wird diese Recyclingidee wieder zunichte gemacht.
Die Zukunft der Idee der keinsten Einheit
Es wäre zu wünschen, dass die Idee des kleinsten Bausteins, eine Uridee der Menschheit, nicht in Vergessenheit gerät, sondern zunehmend in der Produktion von Industrieprodukten umgesetzt wird, um die Zerstörung der Natur dadurch zu minimieren, dass zur Produktion von Industriegütern nur solche Bausteine verwendet werden, die wiederverwendet werden können. Optimal wäre, wenn auch die nicht benötigten und durch die Produktion neu entstandenen Bausteine, die derzeit als "Abfall" bezeichnet werden, für die Herstellung anderer Produkte verwendet werden könnten. Dies wäre lediglich die Umsetzung der Idee des kleinsten Bausteins der Natur in die Arbeitsweise des Menschen.
Nicht zuletzt möchte ich als Philosoph der menschlichen Lebenspraxis darauf hinweisen, dass die Praxis der Theorie vorausgeht: seit 10.000 Jahren praktizierte der Mensch die Idee der kleinsten Einheit in seiner Baupraxis, die am Anfang menschlicher Zivilisation steht, ehe die theoretische Philosophie vor 2.500 erstmalig auf die Idee kam, das kleinste Teilchen als Atom dem Aufbau der Materie zugrunde zu legen.
Rudi Zimmerman
p.s.: der guten Ordnung halber sei aber auch darauf hingewiesen, dass es - wie immer im Leben - auch Alternativen gibt: so haben sogenannte “Schleimpilze” (Myxomyceten) u.a. eine Lebensform, in der sich ein Organismus bildet, der aus einer riesigen Zelle (bis ca. 1m2) mit Hunderten bis zu ca. einer Million Zellkernen besteht. Das Zellplasma der nunmehr unidentifizierbaren Einzelzellen, aus denen sich der Körper gebildet hat, ist zu einem Leib verschmolzen. Hier lässt sich eine Parallele ziehen zum menschlichen Hyperzeller (Hass1). Betrachtet man nämlich die Produkte menschlicher Tätigkeit als körperexterne Organe des Menschen, so entsteht durch gemeinsame Produktionseinheiten (Fabriken, global tätige Konzerne) und gemeinsam genutzte Produkte (öffentliche Verkehrsmittel, globale Handels- und Kommunikationswege) ein Gesamtorganismus der Menschheit, vergleichbar einem derartigen Schleimpilz.
1) Hans Hass (1994): Die Hyperzeller. Carlsen. Hamburg. ISBN 3-551-85017-8 |