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Offener Brief an Gerald Hüther
oder
Die Differenzierung lebender Systeme nach ihrer Ordnungshöhe
Sehr geehrter Herr Hüther,
Dem Inhalt des Buches "Connectedness" stimme ich weitestgehend zu, wobei ich keine Einzelheiten aufzählen möchte. Für wichtiger halte ich, Ihnen einen Punkt mitzuteilen, in dem ich in meiner Philosophie lebender Systeme ein etwas anderes Modell entwickelt habe. Sie sagen an verschiedenen Stellen, das lebende Systeme das Ziel haben, ihr Überleben zu sichern, zu wachsen und sich fortzupflanzen. (Lebewesen wollen etwas. "Dieses Ziel, ... die Sicherung seines Überlebens, seines Wachstums und seiner Fortpflanzung, verfolgt es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln." Seite 105; )
Das ist sicher korrekt. Meines Erachtens hat es jedoch Vorteile, die Ordnungshöhe des lebenden Systems dabei zu beachten und die diese Ziele der Ordnungshöhe des Systems zuzuordnen. Ich unterscheide in meiner Theorie zwischen dem lebenden System der Ordnungshöhe Individuum (darunter befindet sich das lebende System der Ordnungshöhe Zelle), darüber befindet sich das lebende System der Ordnungshöhe "Gesellschaft", beim Menschen organisiert als "Staat" und darüber das System der Ordnungshöhe "Art" (vielleicht kennen sie Arthur Koestlers Begriff des "Holons", der das gleiche beinhaltet).
Ordnet man nun die von Ihnen erwähnten 3 Ziele dieses Systemen zu, so bleiben eigentlich nur 2 Handlungsziele des lebenden Systems übrig, nämlich
1. die Selbsterhaltung und 2. das Wachstum.
Das 3., nämlich die Vermehrung, erscheint dann als Wachstum des Systems Art. Bei den Systemen Art gibt es eben 2 Möglichkeiten des Wachstums der Art, nämlich die ungeschlechtliche Teilung der Elemente des Systems und deren zweigeschlechtliche Vermehrung.
Der einzelne Mensch ist ja nur einerseits ein Individuum, das selbstbestimmt handeln kann, andererseits ist es ein Element seiner Art (und seines Staats sowie anderer übergeordneter Systeme) und mit seiner Vermehrung, also der Zeugung und Aufzucht von Nachwuchs, erfüllt er nicht ein Eigeninteresse, sondern das Wachstumsinteresse seiner Art. Die Aktionen, die dafür erforderlich sind, werden daher auch genetisch gesteuert, und zwar über sogenanntes Instinktverhalten, das durch bestimmte Reize ausgelöst wird. Partnersuche, Kopulation und Aufzucht des Nachwuchses werden daher auch beim Menschen durch derartiges hormongesteuertes reflexhaftes Verhalten bestimmt. Balzverhalten, Imponierverhalten, Koitus und Brutpflege sind demnach Handlungen, die der Mensch als Effektor (Diener) der Art ausführt und nicht als autonomes Wesen, und die Befriedigungen, die er dabei erlebt (z.B. der Orgasmus), sind die Belohnungen der Natur (der Art), die er dafür erhält, dass er (der Mensch) den "Willen" der Art erfüllt. Auch die Sorgen und Mühen der erfolgreichen Kinderaufzucht (die Nestpflege) belohnt die Natur mit Zufriedenheitsgefühl usw. (ebenfalls vermittelt über Hormone).
Das Verständnis für den Menschen verbessert sich m.E. erheblich, wenn man jede menschliche Handlung daraufhin auseinanderdividiert, ob sie im Eigeninteresse des Individuums liegt oder im Wachstumsinteresse der Art (oder anderer übergeordneter Systeme) ausgeführt wird. Und man bemerkt dann genauer, dass letztere Handlungen, bei denen wir als Diener (Effektor) der Art tätig sind, hormonell über die Vermittlung bestimmter positiver Gefühle gesteuert werden. Übrigens wird auch gemeinschaftsdienliches altruistisches und selbstloses Verhalten von der Natur hormonell durch positive Gefühle belohnt und damit gesteuert, weil auch derartige Verhaltensweisen der Art – und eben nicht dem Individuum - nützen.
Selbst wenn wir kreativ tätig sind und etwas Neues erfinden oder entwickeln, wird dies mit Glücksgefühlen (=Ausschüttung von Glückshormonen) belohnt, weil auch die Ergebnisse derartiger neuer Gedanken oder Verfahren oder die Erfindung neuer Hilfsmittel (=körperexterner Organe) nicht nur dem Individuum nützen, sondern auch den Mitmenschen. Weil dies, kurz gesagt, der eigenen Art zum Vorteil gereicht, ihr also einen Wettbewerbsvorteil verschafft und ihre Vermehrung (Vergrößerung) verbessert, die Evolution voranbringt.
Wenn wir uns also wohl fühlen, glücklich oder zufrieden sind, steckt dahinter stets ein Vorteil für unsere Art.
Wenn wir hingegen ganz für uns selbst als Individuum im eigenen Interesse wachsen und uns entfalten wollen, sollten wir auf derartige positive Gefühle verzichten.
Das wäre die Lehre aus der Differenzierung zwischen den lebenden Systemen der Ordnungshöhe Individuum und Art.
Rudi Zimmerman Philosoph lebender Systeme |