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"Robert Enke"
Der Erfolg als Ursache des Suizids
"Robert Enke" steht in dieser Betrachtungsweise menschlichen Verhaltens nicht für die reale Person dieses Namens, sondern wird als Metapher für einen Menschen gebraucht, der trotz höchster öffentlicher Anerkennung und Bewunderung seinem Leben freiwillig ein Ende setzt. Deshalb wird hier nicht auf erlittene Schicksalsschläge eingegangen und auch auf keine medizinische Diagnose zurückgegriffen, um anscheinend Erklärungen zu finden, sondern vom realen Menschen abstrahiert und der Blick auf das Wesentliche konzentriert. Dieses Wesentliche ist das Allgemeine, das den in der westlichen Zivilisation erfolgreichen Menschen, seine Interaktion mit der Gesellschaft und das Zusammenwirken mit angeborenen körperinternen Steuerungsmechanismen menschlichen Verhaltens charakterisiert.
Das allgemeine Schema menschlichen Verhaltens
Bestimmte Empfindungen der Menschen werden über Konzentrationversänderungen chemischer Substanzen innerhalb des lebenden Körpers vermittelt. Diese unterliegen keiner bewussten Einflussnahme des Individuums, sondern sie werden durch Ereignisse, die außerhalb dieses lebenden Körpers stattfinden, hervorgerufen. Es handelt sich bei diesen Gefühlsqualitäten nicht nur um positive Empfindungen wie Freude, Glück und Zufriedenheit, sondern auch um Angstgefühle, Wutgefühle, Schuldgefühle oder sexuelle Erregungsgefühle, um nur einige zu nennen.
Der Mechanismus ist jedoch naturgesetzlich stets derselbe:
Die Wahrnehmung eines äußeren Ereignisses (z.B. der Anblick eines Sexualobjekts) löst reaktiv die Ausschüttung stimmter sogenannter Hormone (zu deutsch "Antreiber") aus und diese vermitteln einerseits wohldefinierte Gefühlsqualitäten (z.B. sexuelle Erregung) und führen andererseits zu bestimmten Verhaltensweisen (z.B. sexuelle Annäherung bzw. Balzverhalten betreffend des Tierreichs). Diese Verhaltensweisen werden im Tierreich als Instinktverhalten beschrieben, wie die Tierverhaltensforschung beim Tier kein Bewusstsein annehmen. Der Mensch hat stets die Möglichkeit, derartig reflektorisch auftretende Verhaltensimpulse bewusst zu unterdrücken, so dass die Philosophie ihm ei "Bewusstsein" unterstellt. Dieser zweifelhafte Begriff ist jedoch medizinisch als Gegensatz zur Bewusstlosigkeit und psychoanalytisch als Gegensatz zum Unbewussten besser durch Beobachtungen belegt und stellt in seiner philosophischen Benutzung lediglich die Subjektivierung der Eigenschaft "bewusst" für den Inhalt einer Wahrnehmung dar, so dass er philosophisch überflüssig ist und hier nicht verwendet wird.
Der eben beschriebene Vorgang sollte also vollständiger etwas anders als oben dargestellt werden, nämlich:
ein Vorgang, der in der Außenwelt stattfindet, wird zunächst durch Sinnesorgane in elektrische Impulse umgewandelt, die aus verschiedenen Sinnesorganen zum Zentralnervensystem weitergeleitet werden und dort zunächst
im Thalamus, einer Hirnregion, die keine bewussten Wahrnehmungen vermittelt und diese Impulse mit anderen aus dem Körperinneren kommenden verrechnet und die Datenmenge erheblich reduziert, verrechnet. Anschließend werden diese Daten
dann
erstens an das Großhirn weitergegeben, das daraus bewusste Wahrnehmungen herstellt,
zweitens in Änderungen von Hormonkonzentrationen umgewandelt, die in diesem Großhirn zu Gefühlsempfindungen führen und
drittens in Handlungen des Bewegungsapparates umgesetzt.
Der Mensch ist in der Lage, diese Handlungen zu unterdrücken oder zu bremsen, und stattdessen auch andere Handlungen zu vollziehen, was seine bewussten Entscheidungen charakterisiert.
Diese Handlungen, die nunmehr nicht zwingend reine Reaktionen (Instinktverhalten) sein müssen, sondern Folgen einer bewussten Entscheidung sein können, finden innerhalb einer menschlichen Gesellschaft statt, die diese Handlungen oder (in komplizierteren Fällen) Verhaltensweisen bewertet und auf sie reagiert. Diese Reaktionen der Mitmenschen führen ihrerseits ebenfalls zu Wahrnehmungen und Gefühlsqualitäten. Diese Reaktionen können grundsätzlich positiv (anerkennend) oder negativ (bestrafend) sein und wirken damit verstärkend oder hemmend auf die Handlungen oder das Verhalten des Individuums.
Das wäre das grundsätzliche Verhaltensschema des Individuums in einer Gesellschaft, das ich nun auf "Robert Enke" anwende.
Das Verhaltensschema des erfolgreichen Menschen
Der erfolgreiche Mensch erlebt zunächst Bewunderung der Mitmenschen als Reaktion auf eine bestimmte Handlung. Zum Beispiel verhindert er als Fußballtorwart, dass der Spielball die Torlinie des Tores, das er zu hüten hat, nicht überschreitet. Diese Handlung wird von Mitmenschen beobachtet und mit Beifall quittiert. Die Wahrnehmung dieses Beifalls führt zu einer Ausschüttung von Glückshormonen (wie deren Konzentrationsänderungen konkret aussehen, kann hier außer Betracht bleiben) und damit zu einer Empfindung von Glücksgefühl. Eine derartige positive Empfindung hinterlässt den Wunsch nach Wiederholung. Der Mensch strebt grundsätzlich nach Erleben von Glück und Vermeidung von Unglück – der sogenannte "Hedonismus", den bereits Platon erkannt hat. Freud sprach in Bezug auf Sexualität vom "Lustprinzip". Die Funktion des Gedächtnisses ist allerdings, das sei noch einmal betont, die Voraussetzung dafür, das diese Suche nach Glück überhaupt funktionieren kann.
Das erlebte Glücksgefühl, ausgelöst durch die Reaktion der Zuschauer beim Halten eines Balls, "motiviert", wie es die Psychologie nennt, "Robert Enke" also dazu, seine Handlung zu wiederholen und nochmals einen Ball am Überschreiten der Torlinie zu hindern. Die Philosophie lebender Systeme zieht jedoch die kybernetische Sichtweise vor und spricht von positiver Rückopplung. Der Beifall des Publikums ist die positive Rückkopplung des erfolgreichen Halten des Balls. Dieses Verhalten ist vom Publikum erwünscht. Das Publikum bewertet diese Handlung positiv und reagiert mit Beifall, und dieser Beifall, der über Glückshormonausschüttung beim Handelnden Individuum zu Glücksgefühlen führt, verstärkt damit das vom Publikum erwünschte Verhalten. (Siehe dazu auch meinen Clip bei youtube - hier klicken)
Folge dieser positiven Verstärkung ist, dass "Robert Enke" sich bemüht, auch den nächsten Ball zu halten. Gelingt dies, reagieren die Mimenschen erneut mit Beifall, was zu Glücksgefühlen führt und damit zu einer Verstärkung des Bemühens, auch den nächsten Ball zu halten. Das Verhalten von "Robert Anke" ist nun desalb steigerungsfähig, weil die Möglichkeit, einen Ball zu halten, geringer wird, wenn der Schuss schärfer oderpräziser erfolgt. Der Beifall wird auch nur dann stärker, wenn der Schwierigkeitsgrad des Haltens steigt.
Wir sehen hier also einen Regelkreis mit positiver Verstärkung, bei dem der Schwierigkeitgrad der Leistung, der mit Beifall bedacht wird, auf der einen Seite steigt, auf der anderen Seite die Anstrengung des Individuuums zum Erreichen des Glücksgefühls weiter steigt. Werden auch allerschwerste Schüsse erfolgreich gehalten, wird das bald zur Normalität und Beifall wird nur noch gegeben, wenn die Schüsse als unhaltbar angesehen werden können. Dieser, zu ständiger Leistungssteigerung führende Regelkreis mit positiver Rückkopplung führt bereits nach der Analyse Frederick Vesters gesetzmäßig in eine Katastrophe. Auch von Foerster sieht dies so. irgendwann endet hier nämlich die Fähigkeit zu weiterer Leistungsverbesserung, hohe Leistung wird dem Publikum zur Gewohnheit. Das Publikum bewertet die anfangs mit Beifall versehenen Leistungen als selbstverständlich, reagiet gar nicht und quittiert kleine Leistungsmängel bereits mit Unmutsäußerungen, Buh-Rufen. Das sich anstrengende Individuum erlebt nunmehr Enttäuschungen trotz guter Leistungen, fühlt sich durch neutrale Reaktionen des Publikums bereits kritisiert oder sogar gekränkt. Diese Kränkungen verstärken die Leistungsanstrengungen ihrerseits, aber irgendwann stößt jedes Individuum an natürliche Leistungsgrenzen.
Im Sport stellt sich dann die Frage des Dopings. Falls dieser Weg der Leistungssteigerung mit Hilfsmittel gewählt wird, ist aber auch diesem irgendwann eine natürlich Grenze gesetzt. Die Katastrophe besteht dann beispielsweise im Herzversage.
Bei "Robert Enke" nun endete diese Katastrophe im Suizid. Dieser ist jedoch nicht die Folge einer Depressionskrankheit, sondern er ist die Folge einer positiven Rückkopplung, die eine natürliche Grenze gefunden hat. Das Individuum vermisst nun das Glücksgefühl, das von den Mitmenschen nur noch mit Beifall bei sozusagen unmenschliche Leistungen vergeben wird. Verhaltensweisen, die vorher Spaß machten, sind zur Routine geworden, die Freude geht verloren, der Beruf ist zur Qual geworden.
Das Schuldgefühl des Individuums
Schuldgefühl tritt nach Ansicht der PhilS (=Philosophie lebender Systeme) auf, wenn das Individuum eine Handlung begeht, die seine Mitmenschen schädigt. Prototyp derartiger Handlungen ist die Tötung des Artgenossen. Selbst im Rivalenkampf um die Gunst des Weibchens hat die Natur (die Evolution) eine Tötungshemmung vorgesehen: bietet der Unterlegene seine Kehle zum tödlichen Biss an, löst das reflektorische eine Hemmung aus. Der Überlegene lässt vom Unterlegenen ab, seine Aggressivität wir durch den Anblick der Hilflosigkeit gehemmt. Wird der Unterlegene dennoch getötet, tritt ein Schuldgefühl mit dauerhafter Wirkung auf. Auch dieses Schuldgefühl ist biochemisch-hormonell erzeugt, genetisch gespeichert, und ist im Prozess der Evolution als erfolgreich selektiert worden. Die Selektion setzt nämlich, und das natürlich bei Tieren, die in Gruppen leben, wie der Mensch und seine evolutionären Vorfahren, nicht unbedingt am Individuum an, sondern an der Gruppe. Hier konkurrieren nicht Individuen um das Überleben, sondern Kollektive, Gruppen, Horden, Gesellschaften, die sich gegenseitig bekriegen. Daher spricht die PhilS hier von Gruppenselektion. Die überlegene Gruppe pflanzt sich hier fort.
Der Mensch gehört also zu den Tieren, bei denen die Gruppenselektion dazu geführt hat, dass das Individuum, das ein gruppenschädigendes Verhalten zeigt und von seinen Mitmenschen kritisiert oder gemieden wird, an einem Schuldgefühl leidet. Dieses Schuldgefühls ist normalerweise (ich spreche hier nicht von Krankheiten) die Gefühlsreaktion auf eine negative Rückkopplung der Mitmenschen und hat den biologischen Sinn, das Individuum zu einer Anpassung an die Bewertungen der Gesellschaft zu bewegen.
Im Fall "Robert Enke" tritt also das Schuldgefühl nicht auf, weil eine Depressionskrankheit besteht, sondern weil das Individuum nicht mehr in der Lage ist, durch weitere Leistungssteigerung eine Anpassung an die immer weiteren Leistungsanforderungen des Publikums zu vollziehen.
Das Schuldgefühl der Gesellschaft
Nicht nur das Individuum leidet an einem biologisch erklärbaren Schuldgefühl (einem physiologischen Schuldgefühl, das nicht krankhaft ist), wenn es durch sein Verhalten die Erwartungen seiner Mitmenschen nicht erfüllen kann oder sich diesen Erwartungen nicht mehr anzupassen vermag und auf Beifall und Glücksgefühl trotz hoher Leistungen verzichten muss. Der konkrete Fall Robert Enke hat gezeigt, dass dieses Publikum nach seinem Freitod mit noch nie dagewesener Trauer reagiert hat.
Dies erkläre ich damit, dass nun auf Seiten des Publikums ein kollektives Schuldgefühl als Reaktion darauf besteht, für den Tod Robert Enkes verantwortlich zu sein. Umgekehrt könnte der Freitod Robert Enkes auch als Bestrafung des Publikums dafür interpretiert werden, ihn nicht mehr mit einer weiteren Steigerung seiner Glücksgefühle mittels Beifallsverstärkung belohnt zu haben. Dies selbstverständlich nicht als bewusstes Vorhaben. Das Publikum hat jedoch kollektiv registriert, dass der Gemeinschaft ein hervorragender Torwart verloren gegangen ist, dass also der Gemeinschaft durch das Ausscheiden Robert Enkes für immer ein Schaden entstanden ist, der nicht so einfach zu ersetzen ist. Unbewusst fühlt es sich dafür auch verantwortlich, kann aber nun rückwirkend den Mangel an Beifall nicht mehr nachholen. Deshalb die Betroffenheit der Massen als Reaktion auf das abgewehrte Schuldgefühl, das als solches unbewusst bleibt.
Ergebnis
Der geschilderte Rückkopplungsmechanismus läuft naturgesetzlich ab. Der Mensch ist jedoch in der Lage, sich auch gegen natürliche Handlungsimpulse zu entscheiden. Das ist im übrigen die Herkunft der Zivilisation. Natürlicherweise fliehen Tiere vor dem Feuer. Selbst der Arm "weiß" das und zieht die Hand reflexhaft aus der Flamme zurück, ohne dass das Individuum den bewussten Befehl dazu geben muss. Diesen Impuls zu unterdrücken und sich dem Feuer (der Hitze) zu nähern, hat den Menschen in die Lage versetzt, sich das Feuer nutzbar zu machen. Beim Erleben von Glücksgefühlen ist dies etwas anders. Die Sogwirkung bzw. die Anziehungskraft von Glücksgefühlen ist stärker als die Fähigkeit des Menschen, sich entsprechend bewusst gefassten Entschlüssen zu verhalten. Das Individuum könnte beispielsweise den Entschluss, einen Ball nicht halten zu wollen, nicht umsetzen. Kein Mensch entscheidet sich zu einer schlechten Leistung und macht "willentlich" Fehler – es sei denn, der Fehler wird von anderer Seite belohnt. Leistung wird in unserer Gesellschaft nicht nur durch Beifall usw. belohnt, wie hier beim Fußballtorwart, sondern besonders durch Geld. Durch Geldzuwendungen kann die Gesellschaft, können die Mitmenschen, das Verhalten des Individuums steuern, da Geldempfang Glücksgefühle auslöst. Dieser auch hier parallel ablaufende Mechanismus einer positiven Rückkopplung verstärkt ebenfalls das Bemühen nach weiterer Leistungssteigerung. Derartige Kreisläufe mit positiver Rückkopplung zu durchbrechen, gelingt nicht durch den Vorsatz, eine Handlung nicht zu vollziehen. Dies ist wie beim Suchtkranken: die Heroinzufuhr löst Glücksgefühl aus und der Süchtige wir dadurch getrieben, immer höherer Dosen einzunehmen, da der Körper sich an die Glückszufuhr adaptiert. Schließlich entsteht ein Zustand, in dem ohne die Zufuhr von dem Mittel, das diese Glücksgefühle auslöst, eine Entzugssymptomatik auftritt. Diese Entzugssymptomatik steuert nun das Verhalten, das geeignet sein könnte, durch Zufuhr dieses Mittels einen Zustand von Normalität herbeizuführen. Das Suchtmittel wird nicht mehr eingenommen, um Glücksgefühle zu erhaschen, sondern um einen Zustand herzustellen, in dem das Individuum normal denken und handeln kann.
Grundsätzlich hilft theoretisch nur eine Einflussnahme auf das Wünschen, das Begehren. Der Wunsch nach Erfolg, nach Anerkennung, hier nach Beifall, also der Wunsch nach Glücksgefühlen, der Wunsch nach narzisstischer Befriedigung, wie die Psychoanalyse des nennt, ist ein Ansatzpunkt für das Individuum, sich aus dieser Spirale von Leistungssteigerung und Zufuhr von narzisstischer Befriedigung zu befreien. Der Verzicht auf Glück.
Nun gibt es Menschen, die durch Meditation ihr ganzes Leben lang an diesem Ziel arbeiten. Theoretisch ist auch dies seinerseits ein Bemühen, das durch kleine Erfolge verstärkt wird und so den gleichen Mechanismus der positiven Rückkopplung in Gang setzt.
Ich empfehle das Hinsehen, den skeptischen Blick auf sich. Das Gefühl, glücklich zu sein birgt stets die Gefahr, dieses Gück wiederholen zu wollen. Aber bereits im Ansatz sollte man sich fragen, wer von meinem Verhalten, das bei mir zu Glücksgefühl führt, eigentlich profitiert. Das beginnt beim sexuellen Orgasmus. Hier profitiert die Evolution. Der Sinn des Orgasmus liegt in der Ausbreitung, der Vermehrung genetisch gespeicherter Daten. Das nützt mir gar nicht. Mir macht es nur Arbeit, mich um die Aufzucht des Nachwuchses zu bemühen. In der Regel profitiert im Grunde nicht das Individuum, sondern seine Umwelt. Bei "Robert Enke" sind es die Zuschauer. Zu deren Nutzen begibt sich Robert Enke in den Kreislauf von ständiger Leistungssteigerung bis zur Gesundheitsschädigung, dessen Höhepunkt hier der Freitod war.
Rudi Zimmerman am 15.11.2009
p.s.: Lehren aus dieser Analyse kann jeder für sich selbst ziehen oder es auch lassen |