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Rock- und Bluesmusik
Die körperinterne Verarbeitung von Musik
Rockmusik und Bluesmusik unterscheidet sich weniger in den Harmonien, Rhythmen, Melodien und „Läufen“, sondern mehr in der Geschwindigkeit, in der die Songs gespielt werden und in den Klängen. Diese im ersten Moment geringen Unterschiedlichkeiten haben erhebliche Auswirkungen auf das Befinden der Interpreten und der Zuhörer, wobei natürlich das innere Befinden, die Emotionalität, die der Spieler ausdrückt, diese Stimmung bestimmt und sich die Zuhörer auf diese zum Ausdruck gebrachte Befindlicheit einschwingen. Dieser materielle Vorgang wurde an anderer Stelle ausführlich beschrieben und sei hier nur kurz referiert: Die Musik, die ein Spieler oder eine Band produziert, dringt als akustischer Reiz über das Ohr des Hörers in dessen Körper ein, wobei die Schallwellen in elektro-chemische Reize (also Nervenimpulse) umgewandelt werden. Diese gelangen zunächst in eine Hirnregion, die Thalamus genannt wird. Ich ziehe die Bezeichnung „Zentralhirn“ vor. Dort werden zwei Umschaltungen vorgenommen. Der eine Reizweg geht in elektrochemischer Weise weiter über mehrere Zwischenstationen in die Hörrinde, einen Teil der Großhirnrinde, deren Reize vom ICH des Hörers in Töne (akustische Wahrnehmung) usw. umgewandelt und bewusst werden, der andere Weg geht über den Hypothalamus, der die Hormonproduktion des Körpers dirigiert, in die Hypophyse, die entsprechende „Releasingfaktoren“ (Steuerhormone) ausschüttet und damit die Hormondrüsen des Körpers steuert, und damit parallel zur bewussten Wahrnehmung die Körperempfindungen des Zuhörers generiert. Auf diese Weise wird die Zuhörerschaft in eine gemeinsame Stimmung und Gefühlswelt versetzt, weil die Umstellungen des Hormonausschüttung in allen Menschn grundsätzlich gleich erfolgt. Gleiche Wahrnehmungen führen bei verschiedenen gesunden Individuen zu gleichen Emotionen.
Diese emotionalen Reaktionen der Zuhörer auf die zum Vortrag gebrachte Musik des Blues- und Rockmusikers sollen nun auf ihre Unterschiede untersucht werden.
Das autonome (vegetative) Nervensystem
Das autonom arbeitenden Nervensystem steuert Körperzustände bzw. körperliche Erlebnisqualitäten. Deshalb trägt dieses unbewusst arbeitende Nervensystem auch den Namen „autonomes Nervensystem“, es wird aber auch als „vegetatives Nervensystem“ bezeichnet.
Es besteht aus zwei Teilen, die mit unterschiedlichen Transmittern (Botenstoffen) arbeiten. Die Nerven liegen neben dem Wirbelkanal, der die motorischen und sensiblen Nervenstränge beherbergt, und bilden im Körper verschiedene Nervenknoten (Ganglien), dessen bekanntestes der sogenannte „Solar Plexus“ (das „Sonnengeflecht“) ist. Die beiden Teile dieses vegetativen Nervensystems werden als sympathisches und parasympathisches Nervensystem bezeichnet.
Bei der Beschreibung der Funktionen, die sich ergänzen bzw. wie Antagonisten wirken, beschränkt sich die Schulmedizin weitgehend darauf, dem „Sympathicus“ die Steuerung der Tagesaktivität zuzuschreiben, die mit Aktivität der Bewegungsmuskulatur verbunden ist und dadurch Energie (Kalorien) verbraucht, während dem „Parasympathicus“, dessen Hauptnerv der Nervus Vagus - oder einfach „der Vagus“ - ist, als zuständig für die Verdauung, für das Aufnehmen von Nahrung, beschrieben wird, und der eher nachts aktiv ist. Der Sympathicus dient quasi der Jagd (in der heutigen Zeit der Arbeit zum Zweck des Geldverdienens), der Aufnahme von Nahrung in den Mund und anschließend tritt der Parasympathicus in Aktion, der die Verdauung der Nahrung (im Magen- Darmtrakt) steuert.
Bei antagonistisch wirkende Nervensystemen sind selbstverständlich ständig beide Teile aktiv, wobei allerdings der Schwerpunkt unterschiedlich gelagert ist (beispielsweise am Tag und in der Nacht).
In meiner ganzheitlichen Betrachtungsweise sind nicht nur diese Unterschiede - Beschaffung von Nahrung und Verdauung von Nahrung - von Bedeutung, sondern wesentlich kommt es dabei darauf an, wohin die Aufmerksamkeit des Individuums gerichtet ist. Bei der Arbeit zum Gelderwerb und dem Kauf von Nahrungsmitteln (und selbstverständlich anderen Gütern oder Waren) ist die Aufmerksamkeit (neuerdings vielfach als „Achtsamkeit“ bezeichnet) auf die Umwelt gerichtet, im Zustand der parasympathischen Aktivität ist sie nach innen gerichtet, in den eigenen Körper hinein. Ersterer Zustand der Aktivität der Bewegungsmusulatur ist mit bewusster Wahrnehmung gekoppelt, der letztere Zustand mit nicht bewusster, sondern eher diffuser, gefühlshafter Wahrnehmung, für die die Sprache, die ja ebenfalls bewusst ist, auch weniger Beriffe gefunden hat. Im ersteren Fall denkt das Individuum sozusagen mit dem Kopf (verbales Denken), im letzteren mit seinem Körper (gefühlshaftes Wahrnehmen ohne verbale Begriffe). In letzter Zeit wurden nach innen gerichtete Aktivitäten, wie die Meditation, vermehrt wissenschaftlich untersucht, mit dem Ergebnis, dass diese nach innen gerichtete meditative Aufmerksamkeit auch messbare Auswirkungen auf die körperlichen Funktionen hat (Übersicht z.B. SPIEGEL Nr 21 vom 18.05.2013: „Heilen mit dem Geist“).
Die körperlichen Korrelate von Blues- und Rockmusik
Nach diesem nun doch etwas läger geratenen Vorspann komme ich auf den Unterschied von Rockmusik und Bluesmusik und erkläre diesen mit dem unterschiedlichen Aktivitätsniveau von Sympathicus und Parasympatikus.
Der Rocksänger wird von seinem sympathischen Nervensystem beherrscht, das auf Aktivität, Beutejagd, Kampf usw. gerichtet ist mit den entsprechenden Emotionen wie Aggressivität und Wut und der Bluesgitarrist wird eher getragen von seinem Erleben von Enttäuschung, Frustration, seinem Rückzug ins Innenerleben und der Restitution, der „Verdauung“ des Erlebten. (Der Begriff „Blues“ kommt ja deswegen auch aus dem englischen Wort „blue“ für traurig).
Dieser Unterschied kommt natürlich auch in den Titeln von Rock- Bluessongs zum Ausdruck, wovon sich jeder überzeugen kann. Ich möchte hier mehr auf die Spielweise und Darstellungweise der Musiker eingehen. Hat der Spieler (oder Sänger) schauspielerisches Talent oder lässt er sich von seiner Musik ergreifen, dann wird er natürlich je nach Musiktitel, den er darbringt, so oder so umstellen und sich von seinem Sympathicus oder Parasympaticus tragen lassen. Die Kunst des Vortragenden besteht also darin, sich auch selbst an einem Vortragsabend zwischen den Songs innerlich auf „Kampf“ oder ruhige „Verdauung“ einstellen zu können. Ein guter Künstler vermag eben dies, andere sind eher auf eine Art der Musik eigestellt. Ein guter Bluesmusiker (oder eine gute Musikband) muss jedoch nicht zwangsläufig auch ein guter Rockmusiker sein. So ist ACDC eine gute Rockband, die man sich jedoch schwer als Interpret eines Bluestitels vorstellen kann. Vor vielen Jahren habe ich einmal ein Konzert dieser Gruppe erleben können, das nur 30 Minuten dauerte. Danach waren nicht nur die Musiker völlig fertig, sondern auch ich - und die anderen Zuhörer. Es handelte sich quasi um einen halbstündigen Kampf ums Überleben. Dazu sollte man wissen, dass Adrenalin nicht nur Transmittersubstanz des sympathische Nervensystems ist, sondern von einem ausgelagerten Teil dieses Nervensystems, dem Nebennierenmark, gespeichert wird und auf Befehl der Hypophyse in Notsituationen ausgeschüttet wird, in denen es um das Überleben des Individuums geht. In derartigen Situationen geht es um die Entscheidung „Kampf oder Flucht“. Beide Reaktionen benötigen einen erheblichen Energieaufwand. Die Adrenalinausschüttung stellt diese Energie zur Verfügung. Die Musiker, wie hier beispielsweise von ACDC, verbrauchen diese Energie selbstverständlich auch. Wird diese Energie jedoch nicht verbraucht, kann das zu einer Bluthochdruckkrankheit führen (bei Dauerstress). Der Bluesinterpret hingegen verbraucht weniger Kalorien. Die Zuhörer können sich bisweilen bei derartiger Musik entspannen.
Die „Rolling Stones“ sind aus meiner Sicht eine Musikgruppe, die beide Stilrichtungen beherrscht und die Fähigkeit hat, sich auf die jeweilige Richtung einzustellen. Teilweise kommt es auch während eines Musikstücks zu einer Umstellung, was hohe Anforderungen an die Fähigkeit des Musikers stellt. Beispielsweise kommt es während eines Bluestitels zeitweilig zu Eruptionen von Gefühlen - auch aggressiver Art - die sich oft nicht nur auf die Bewegung der Finger beim Gitarrenspiel (schnelle Gitarrenläufe wie bei Alvin Lee von Ten Years After) beschränkt, sondern den ganzen Körper und vorrangig das Gesicht erfasst. Gute Musiker und Sänger, wie beispielsweise Janis Joplin oder Joe Cocker, benötigen für ihre Kunst ganz besonders die Gesichtmotorik und die Motorik der Hände, bisweilen des ganzen Körpers. Sie singen oder spielen ganzkörperlich, wie ich sagen würde. Der Künstler kann sich selbstverständlich im Lauf seines Lebens auch verändern. So war Eric Clapton mit der Band „Cream“ ein eher sympaticoton betonter Gitarrenspieler, natürlich angetrieben von dem Schlagzeuger Ginger Baker, während er nun im Alter wie selbstverständlich ohne überflüssiges Gehabe auf die Bühne tritt und seinen Blues spielt und singt. So habe ich ihn jedenfalls 2013 in Berlin erlebt. Andere Musiker spielen schnelle Musik ganz locker und entspannt, also eher vagoton, wie der kürzlich verstorbene J.J. Cale. Für wieder andere ist der Blues eine ganzkörperliche Kraftanstrengung, wie für den ebenfalls verstorbenen Gary Moore.
Der Zuhörer
Die Musik wird für den Hörer bzw. für den Empfänger gemacht. Musik ist eine nonverbale Botschaft (des „Senders“), die zwar vom Musiker „codiert“ und gesendet wird, wie es nachrichtentechnisch beschrieben werden kann, aber der Empfänger muss diese Botschaft „decodieren“ bzw. verarbeiten. Selbstverständlich kann der Künstler zusätzlich eine verbale Botschaft senden, aber über diesen verbalen Teil spreche ich hier nicht. Die körperliche Verarbeitung mit ihren beiden Wegen - einerseits in die Großhirnrinde zur bewussten akustischen Wahrnehmung von Tönen, Akkorden, Klängen und Rhythmen, andererseits über die Hypophyse in den Körper - habe ich bereits beschrieben (s.o.). Der Empfänger kann die Musik nach seinen Bedürfnissen benutzen, beispielsweise zur Entspannung oder als Hintergrundrauschen bei einem Gespräch oder Essen, aber er kann sie auch genießen und sich von ihr körperlich Vereinnahmen lassen, sich zu ihr bewegen (im Tanz) bzw. sich von ihr bewegen lassen, und versuchen, die in der Musik liegende nonverbale Botschaft zu verstehen. Letzteres ist der eigentlich menschliche Sinn von Musik. Musik jeglicher Stilrichtung ist nämlich eine menschliche Schöpfung, ähnlich wie die Sprache und sie hat - wie die Sprache - eine verbindende Funktion. Während Sprache (verbale Kommunikation) die Menschheit trennt, nämlich in verschiedene Sprachgemeinschaften (Denk- und Glaubensgemeinschaften), die sich bekämpfen und bekriegen, hat die Musik eine verbindende Funktion zwischen Menschen verschienener Sprachgemeinschaften. Musik ist also nicht regional, wie die Sprache, sondern global. Die nonverbale Botschaft einer Musik kann unabhängig von der Sprache von jedem Menschen verstanden und miterlebt werden. Daher kann sich Musik oder ein Musikstück auch global ausbreiten, was unter Verwendung der modernen Kommunikationmittel in kürzester Zeit geschehen kann. Und Musik kann sich daher auch weltweit entfalten bzw. evolvieren. Für die Evolution von genetisch gespeicherten Ideen (Informationen) hat die Natur Jahrmillionen benötigt. Diese Evolution arbeitet mit den Mitteln von Überproduktion von Nachkommen (den Genträgern, also den Individuen) und deren Selektion durch Konkurrenz, Mord und Totschlag, Gefressenwerden und Fressen. Die Evolution nonverbaler Informationen, die mit dem Mittel der Musik arbeitet, entwickelt nicht genetische gespeicherte Daten, sondern Ideen, bisweilen auch „Meme“ genannt (Richard Dawkins, Susan Blackmoore). Diese Meme (Ideen) bestehen u.a. in kurzen Tonfolgen und Rhythmen, die nicht wieder auszumerzen sind und von anderen Musikern weiterentwickelt werden. Der erste und bekannteste dieser musikalischen Ideen ist wohl die Tonfolge am Anfang der 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven (da-da-da-daaa). Heute nennt man dies „Licks“, und die Blues- und Rockmusik hat inzwischen einige neue dieser einprägsamen Tonfolgen entwickelt - und andere Stilrichtungen haben ihre Meme oder Ideen. Diese Evolution von musikalischen Ideen findet völlig gewaltfrei statt und gibt Hoffnung, dass die Zerstörung der Natur durch die Trennung der Menschheit in Sprachgemeinschaften mit ihrem rational-naturwissenschaftlichem Denken und dem technisch-wissenschaftlichem Fortschrittglauben überwunden werden kann. Die Menschheit benötigt kein materielles Wachstum, weder als Wirtschaftswachstum, noch als Vermehrung der Menschenzahl (Überbevölkerung), sondern sie benötigt geistiges Wachstum u.a. als Vermehrung von Ideen in der Musik. Und sie benötigt friedliche (harmonische) Zusammenschlüsse von Menschen über Sprachgrenzen hinweg, wie sie durch Musik möglich gemacht werden.
Rudi Zimmerman, Webphilosoph, Berlin, Juli 2013
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