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Der Untertanengeist
Ausschnitt aus Kapitel 2.9. des Buches "Zivilisation als Fortsetzung der Evolution". Verlag Philosophie des dritten Jahrtausends. Berlin. 2008. ISBN 9783000247019
Zusammenfassung: Der Mensch ist als Herdentier geboren und unterwirft sich den Geboten und Verboten der Gemeinschaft (Freuds Über-Ich). Die Unterwerfung des Individuums unter die Gemeinschaftsinteressen beginnt mit der Sprache, mit dem verbalen Denken. Als Belohnung für diese Anpassung wird das Individuum von seinen Mitmenschen mit narzisstischen Glücksgefühlen gespeist. Das geschieht auch in Religionsgemeinschaften, deren Führer beispielsweise von den Eltern die körperliche Misshandlung ihres Kindes verlangen (Beschneidung des Penis oder der Klitoris). Das schlechte Gewissen der Eltern vertieft die Unterwerfung unter die Gruppennorm.
Das Individuum als Teil der Gemeinschaft
Der Untertanengeist sagt dem Individuum: „Ich bin nur ein kleines Rädchen im Getriebe der Welt, an dem ich nichts ändern kann. Ich befolge lediglich Befehle. Für meine Taten trage ich daher keine Verantwortung.…
Die gängige Erklärung ist die, dass der Mensch als Gruppenwesen, als soziales Wesen, entstanden ist und die Einordnung in eine Hierarchie seiner Natur entspringt. Bereits Horden von Primaten haben ein sogenanntes alpha-Tier und eine Hierarchie, ja bereits im Hühnerstall herrscht eine Hackordnung.
Wie ich anfangs in diesem Buch auch erwähnt habe, stellt bereits der Übergang von der Wahrnehmung der empirischen Realität zu sprachlichen Begriffen eine Unterordnung unter eine Gruppennorm dar. Nur im Wahrnehmen bin ich ICH, bereits im begrifflichen Denken bin ich ein Wir und denke als Wir, selbst wenn ich das Ich als Begriff verwende. … Die Hierarchie bietet sich sogar als Möglichkeit zur Verdrängung bestimmter Bewusstseinsinhalte an, so dass ein Interesse des Individuums, eine zusätzliche Motivation, angenommen werden kann, eine Hierarchie zu schaffen und sich in ihr einzuordnen.
Der narzisstische Gewinn durch Unterordnung
Als primären körperinternen Grund für die Einordnung des Individuums in eine Gesellschaft sieht die Philosophie lebender Systeme den narzisstischen Befriedigungshaushalt an. Der Mensch sucht Bestätigung seiner Mitmenschen, weil er ein genetisch programmiertes Belohnungssystem hat, das ihm bei Lob und Bestätigung durch seine Mitmenschen Befriedigung durch Ausschüttung von Glückshormonen verschafft. … Die Sucht nach Bestätigung ist angeboren durch das hormonvermittelte Glücksgefühl. Das Anpassungsverhalten des Individuums innerhalb einer Gemeinschaft wird gesteuert durch die Ausschüttung von Glückshormonen, so wie unser Vermehrungsverhalten durch die Ausschüttung von Sexualhormonen gesteuert wird. Letzteres macht uns zum Sklaven des genetisch determinierten Fortpflanzungstriebes, ersteres zum Sklaven der gesellschaftlichen Vorgaben für Anerkennung. Diese Sklavennatur des Menschen bedeutet, dass das Individuum als Effektor geboren wird und als Effektor stirbt, wenn es sich nicht irgendwann aus dieser Rolle emanzipiert. Der lebende Körper des Individuums ist einerseits der Effektor der Gene, deren Natur darin besteht, Kopien von sich anzulegen, sich zu vermehren. Er ist selbstkopierender Datenträger, wie ich einmal formuliert habe. Andererseits ist er Effektor der Systeme höherer Ordnung, dessen Element er ist. …
Das Schuldgefühl
Das schlechte Gewissen ist nach Ansicht der Philosophie lebender Systeme eine natürliche Reaktion, die auftritt, wenn das Verhalten eines Individuums von angeborenen Verhaltensimpulsen abweicht. Ein wesentlicher natürlicher Impuls ist die Tötungshemmung in Bezug auf Lebewesen der gleichen Art, andere Impulse betreffen die Partnersuche (Imponierverhalten) und die Sorge um den Nachwuchs (Brutpflegeverhalten). Eltern haben den natürlichen Impuls, ihre Kinder zu schützen, sie vor Schaden zu bewahren. Handeln sie dem zuwider, tritt ein schlechtes Gewissen auf. Der Übergang von erstem rituellen Verhalten, das den Sinn hat, das Individuum vom schlechten Gewissen (beim Brudermord) zu reinigen, zur Bildung von Religion, hängt allerdings womöglich mit einer Umkehr dieses Vorgangs zusammen. Das Ritual der Beschneidung von Knaben ist objektiv ein aggressiver Vorgang, der dem betroffenem Kind Schmerzen bereitet und es körperlich schädigt. Es stellt zunächst eine Körperverletzung dar. Kein Vater und keine Mutter würde auf die Idee kommen, sein Kind auf diese Weise zu verletzen und ihm Schmerzen zuzufügen. Ein derartiges aggressives Verhalten dem eigenen Kind gegenüber widerspricht der natürlichen Verhaltensweise von Eltern. Religiöse Führer, die derartiges Verlangen, bewirken damit eine systematische Traumatisierung der Opfer, die damit zu Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft werden. Einerseits muss das Erleben von Angst und Schmerz des Kindes zu Wut- und Hassgefühlen den Tätern und den eigenen Eltern gegenüber führen, die ihn nicht geschützt haben, und andererseits führt Schmerzerleben zur Bildung einer Hypothese, die im Kern besagt, dass ich etwas falsch gemacht habe. Der Organismus vermeidet Schmerz, weil er eine Gefahr für das Überleben darstellen kann, und versucht deshalb, den Schmerz in Zukunft zu vermeiden. Dazu muss er jedoch eine Theorie über die Schmerzursache haben. Findet er keine Ursache im eigenen Fehlverhalten, wie im Fall der Beschneidung, kann ein schlechtes Gewissen resultieren. Nach dem Motto: "Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben, wenn ich auf diese Weise körperlich bestraft werde", bleibt ein Schuldgefühl beim Kind. Aber auch die Eltern entwickeln ein natürliches Schuldgefühl, weil sie die Verletzung ihres Kindes zugelassen haben. Sie müssen ihre angeborenen Schutzimpulsen hemmen. Auch bei ihnen erzeugt dieses widernatürliche Handeln ihrem Kind gegenüber ein Schuldgefühl. Darüber hinaus handelt es sich um eine Unterwerfung. Die Handelnden degradieren sich zu Effektoren eines höheren Wesens, die Eltern unterwerfen sich den Religionsführern und diese unterwerfen sich einem Willen, den sie Gott angedichtet haben. Es wird also ein übernatürlicher Wille mit der Folge konstruiert, dass in den Gläubigen ein schlechtes Gewissen erzeugt wird. … Die Betroffenen verleugnen die objektive Schuld und wehren ihr Schuldgefühl selbstverständlich ab.
Die Identifikation mit dem Aggressor
Sie werden zu Untertanen ihrer Religionsführer, indem sie deren Interpretation der Beschneidung als "heilig" übernehmen. Dafür erhalten sie narzisstische Bestätigung, deren höchste Form die Liebe eines selbsterfundenen Gottes ist, dessen angeblichen Willen sie sich unterwerfen. Im Ergebnis führt die Erzeugung des kollektiven schlechten Gewissens (Depressivität) zur kompensatorischen Stärkung der Gemeinschaft (Identifikation mit dem Aggressor), was im Kampf gegen konkurrierende Gemeinschaften diesen gegenüber zu einem Überlegenheitsgefühl führt und die Bereitschaft erhöht, den Fremden abzuwerten und im Kriegsfall ohne moralische Hemmungen zu töten. Die Erniedrigung der Individuen des eigenen lebenden Systems höherer Ordnung (z.B. Staat) führt auf diese Weise zu einem Überlebensvorteil im Kampf mit konkurrierenden Gemeinschaften.
Rudi Zimmerman Webphilosoph, Gesellschaftsanalytiker
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